Warum gibt es den Placebo-Effekt?
Stephan Matthiesen
Unter Placebo-Effekten versteht man grob die Beobachtung, dass bereits durch die Erwartung einer Heilung die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert zu werden scheinen, selbst wenn bei einer Behandlung gar keine z. B. pharmakologisch wirksamen Substanzen verabreicht werden. Viele Studien zeigen, dass Placebo-Effekte weit verbreitet und von erheblichem Ausmaß sind, selbst bei schwer wiegenden Krankheiten (für einen Überblick und eine Diskussion der Probleme bei der Definition des Begriffes „Placebo“ siehe auch Skeptiker 3/1998, S. 98). Auch bei unkonventionellen medizinischen Verfahren, bei denen kein Wirkmechanismus erkennbar ist, etwa der Homöopathie oder bei Wunderheilungen, wird der Placebo-Effekt als wesentlich angesehen.
Die Stärke der Selbstheilungskräfte löst immer wieder Erstaunen und Verwunderung aus. Doch stellen wir damit eigentlich die richtige Frage? Nein, meint Nicholas Humphrey (Great Expectations: The Evolutionary Psychology of Faith-Healing and the Placebo response, Proceedings of the 27th International Congress of Psychology, 2000). Denn aus evolutionärer Sicht sind enorme Selbstheilungskräfte geradezu selbstverständlich – schließlich gibt es für Tiere in der Natur keine Ärzte oder Krankenhäuser; wer sich nicht selbst heilt, geht unter. Und auch die Alltagserfahrung zeigt, dass die meisten Verletzungen und Krankheiten ohne weitere Behandlung heilen. Die Frage ist vielmehr: Wenn der Körper so große Selbstheilungskräfte hat – warum werden sie dann erst bei einer (Schein-)Behandlung aktiviert? Warum heilt sich der Körper nicht einfach sofort, ohne „gutes Zureden“ von außen?
Humphrey, der am Centre for Philosophy of Natural and Social Science der London School of Economics arbeitet, versucht eine plausible Antwort aus evolutionärer Sicht und verwendet dabei einen relativ umfassenden Placebo-Begriff. Eine exakte Definition für Placebo lässt sich vermutlich nur operational im Rahmen kontrollierter Studien zur Wirksamkeitsprüfung von medizinischen Therapien finden. Die Placebo-Behandlung unterscheidet sich dann im Wesentlichen von der tatsächlichen Behandlung nur darin, dass das in der Studie zu prüfende Therapieelement fehlt, indem z. B. die Placebo-Patientengruppe statt der Tablette mit dem zu prüfenden Wirkstoff eine gleich aussehende Kapsel ohne Wirkstoff erhält.
Diese in der medizinischen Forschung übliche Definition ist freilich für die Frage, die Humphrey interessiert, wenig hilfreich. Humphrey definiert daher den Placebo-Effekt über die vier folgenden Aspekte einer Behandlung: Der Person ist bewusst, dass sie behandelt wird; sie hat gewisse Vorstellungen über die Behandlung; auf Grund dieser Vorstellungen besteht die Erwartung, durch die Behandlung zu genesen; und diese Erwartung beeinflusst die Selbstheilungskräfte. Auch wenn dies eine in konkreten Fällen nicht gerade einfach anwendbare Definition ist, da sie bereits einige Kausalzusammenhänge voraussetzt, sieht Humphrey den so definierten Placebo-Effekt als eine fast allgegenwärtige Erscheinung und hält es für gut belegt, dass die Erwartungshaltung die Selbstheilungskräfte beeinflusst.
Warum heilt sich nun der Körper nicht stets sofort, warum ist die Erwartungshaltung so wichtig? Aus evolutionärer Sicht hat die sofortige Heilung nicht unbedingt die höchste Priorität. Sicherlich ist es besser, gesund als krank zu sein. Doch andererseits bringt die (Selbst-)Heilung für den Körper auch Kosten. Die vollständige Bekämpfung etwa einer Grippe kostet den Körper viel Energie – wer einmal hohes Fieber hatte, weiß das. Oder: Eine Infektion im Verdauungsbereich kann der Körper durch heftigen Durchfall oder Erbrechen bekämpfen – aber er verliert dadurch auch Wasser und Nährstoffe. Daher muss der Körper stets die Vorteile einer schnellen Heilung gegen die Kosten des Heilungsprozesses abwägen.
Was nun besser ist, hängt von der Situation ab. Für unsere in freier Natur lebenden Vorfahren könnte beispielsweise gelten: Wenn genügend Nahrung zur Verfügung steht und keine Gefahr droht, dann kann es sich der Körper leisten, eine Krankheit gründlich zu bekämpfen und dafür viel Energie aufzuwenden. Anders ist die Situation, wenn es kalter Winter ist, Nahrungsmangel herrscht und man stets mit einem Angriff von wilden Tieren rechnen muss. In dieser Situation ist es aussichtsreicher, nicht alle Energie in die Heilung einer Krankheit zu setzen, sondern die Krankheit nur gerade einigermaßen unter Kontrolle zu halten, und stattdessen die Energie für kommende Zeiten zu sparen. Anders ausgedrückt: Ob der Körper die Energie in Heilungsprozesse stecken soll, hängt vor allem davon ab, welche Situation für die nähere oder fernere Zukunft zu erwarten ist. Im Laufe der Evolution könnte es daher vorteilhaft sein, wenn die Selbstheilungskräfte von der Erwartung und der Hoffnung auf eine gute Zukunft beeinflusst werden – der erste Schritt zum Placebo-Effekt.
Nun gut, aber heutzutage leben wir – zumindest in industrialisierten Ländern – nicht mehr in der Gefahr, während einer Krankheit von wilden Tieren angegriffen zu werden. In den allermeisten Fällen ist also heute die vollständige Heilung die vorteilhaftere Option. Warum sind also nicht alle Selbstheilungskräfte aktiv? Und warum spielt gerade der Glaube an die Wirksamkeit einer Behandlung eine Rolle? Humphrey vermutet, dass dies einfach eine Folge dessen ist, auf welche Weise der Körper die Zukunftsaussichten beurteilt. Auch hier gelten wieder Ökonomie-Argumente, die wiederum nicht für unser heutiges Leben, sondern für ein Leben in freier Natur gelten. Denn eine wirklich detaillierte, rationale Analyse der Zukunftsaussichten kann nur durch höhere kognitive Prozesse geschehen – die sind aber aufwändig, weil das Gehirn für derart komplexe Aufgaben viel Energie benötigt. Außerdem läuft man dabei Gefahr, keine Denkressourcen für andere wichtige Aufgaben übrig zu haben. Für die generellen Überlebenschancen ist es daher besser, die kognitiven Prozesse an die Suche nach Nahrung, die Beobachtung der Umgebung und ähnliche häufige Aufgabenstellungen anzupassen.
Für die Beurteilung der Zukunftsaussichten und damit die Entscheidung, wie viel Energie in die Selbstheilung gesteckt wird, ist es hingegen im evolutionären Sinne erfolgversprechender, sich auf wenige einfache, schnell anwendbare, aber in den meisten Fällen brauchbare Faustregeln zu stützen. All die Situationen, in denen es typischerweise besser ist, Energie zu sparen, sind diejenigen, in denen wir uns ziemlich deprimiert fühlen: Wenn es kalt ist, wenn wir Hunger haben, wenn wir alleine sind usw. Demnach meint Humphrey, dass alle Zukunftserwartungen in der emotionalen Variable „Hoffnung“ (bzw. ihrem Gegensatz „Verzweiflung“) zusammengefasst werden, und die Heilungskräfte des Körpers hauptsächlich nur noch auf diese Variable reagieren: Alles, was Hoffnung erzeugt, sollte die Selbstheilungskräfte des Körpers fördern.
Im Falle einer Krankheit schlägt Humphrey vor allem drei „Hoffnung erzeugende“ Faktoren vor. Der erste ist die persönliche Erfahrung. Wenn eine Behandlung einmal erfolgreich war – aus welchen Gründen auch immer –, dann wird sie auch für die Zukunft mit einer Heilungserwartung verknüpft. Es handelt sich also um eine gelernte Komponente von Placebos. Als zweiten Faktor nennt Humphrey das rationale Argument. Eine Behandlung, von der man eine kausale Basis zu verstehen glaubt, ruft eine positive Erwartung hervor. Dabei muss man betonen, dass es hier nicht um einen wissenschaftlichen Nachweis geht, sondern darum, dass das Individuum aus dem individuellen Vorwissen und Weltbild eine rationale Erklärung finden kann – das können auch zutiefst unwissenschaftliche Vorstellungen sein nach der Art: „Wenn etwas stark wirken soll, muss es teuer sein, weh tun oder schlecht schmecken.“ Der dritte Hoffnung erzeugende Faktor ist das Auftreten von Autoritäten, wenn also derjenige, der die Behandlung vertritt, anerkannt ist – wobei auch hier wieder nur die subjektive Einschätzung der Autorität eine Rolle spielt.
Diese Faustregel klingt zwar zunächst unsinnig (Kennen wir nicht alle auch „falsche Autoritäten“?), aber sie macht doch Sinn, denn im Allgemeinen wird jemand erst durch besondere Erfahrung oder Kompetenz zu einer „Autorität“, und man tut gut daran, dieser Person zu vertrauen.
Diese Mechanismen haben sich – so Humphrey – herausgebildet, da sie für unsere in der Natur lebenden Vorfahren gute Überlebenschancen boten. Der Placebo-Effekt entsteht also indirekt als Folge evolutionär sinnvoller Verhaltensmuster und läuft auch noch im modernen Menschen auf niedrigen kognitiven Ebenen, sozusagen intuitiv, ab. Dementsprechend schwer ist es, diese Mechanismen bewusst zu beeinflussen.
Was heißt das für die moderne Welt? Der Placebo-Effekt tritt bei allen Behandlungen auf, sowohl bei denen, die weitere Wirkmechanismen aufweisen, als auch bei denen, die in diesem Sinne „unwirksam“ sind. Wie ist es zu beurteilen, dass auch „unwirksame“ Therapien Hoffnung erzeugen? Einerseits wird man sich natürlich über jede Heilung freuen, egal über welchen Mechanismus sie zu Stande kommt. Andererseits sieht Humphrey es als eine Fehlanpassung, Hoffnung in eine Therapie zu setzen, die objektiv nicht gerechtfertigt ist – denn offensichtlich sind die Heilungschancen größer, wenn man auf eine Therapie vertraut, die sowohl über den Placebo-Effekt als auch über weitere Mechanismen wirkt. Doch eine absolut fehlersichere Anpassung war wohl in der Evolution niemals möglich und auch nicht nötig – solange sich nur in der Mehrzahl der Fälle das System zum Überleben bewährt.
Und in der Welt unserer Vorfahren war die Gefahr relativ gering, einem falschen Heilungsversprechen zu folgen. „Wohl erst mit modernen medizinischen Möglichkeiten und neuen Formen der Werbung“, so Humphrey, „hat sich die Möglichkeit, dass Menschen von (reinen) Placebos fehlgeleitet werden, zu einer ernsteren Gefahr entwickelt. Nämlich der Gefahr, vorzeitig Heilung zu erwarten und die eigenen Ressourcen falsch einzusetzen.“ Konkret: „Schlangenöl lindert Ihren Rückenschmerz. Aber Ihr Rückenschmerz hat sich entwickelt, um Ihren Rücken zu schützen. Und die Gefahr besteht, dass der Schmerz besser, aber Ihr Rücken schlechter wird.“
Dieser Artikel erschien im "Skeptiker", Ausgabe 2/2001.